Tatort: Mülheim an der Ruhr
»Nicht wahr, jetzt ist alles in bester Ordnung«, sagt die Stationsschwester und verabschiedet sich. »Alles Gute! Für Sie und die Kleine.«
»Na ja – trotzdem vielen Dank!«
Andy Bestwig schnappt sich die Reisetasche und den Babykorb. Laura ergreift sein Handgelenk. Sie will ihm den Korb mit dem Baby abnehmen. »Das ist zu viel für dich«, sagt sie. »Zu schwer.«
»Nein, nein. So gewöhne ich mich schneller an die doppelte Verantwortung«, verkündet er schmunzelnd. »Verantwortung für dich und unser wunderbares Kind.«
Ein Lächeln huscht über Lauras Gesicht.
Sie gehen zum Aufzug.
»Zum Glück hab ich vor der Klinik einen Parkplatz erwischt«, sagt Andy.
Als er den Rufknopf gedrückt hat und sich wartend umschaut, stößt er Laura mit dem Ellenbogen an.
»Du, warte mal!«
»Was ist denn?« Die Fahrstuhltür gleitet auf.
»Moment mal. Da ist der Kerl wieder. Der mit dem Blumenstrauß.«
»Ich verstehe nicht«, sagt Laura. Die Aufzugtüren schließen sich lautlos.
»Der in deinem Zimmer war, der uns beklaut hat.«
»Bist du sicher?«
»Hundert Prozent. Du hast ihn ja ganz genau beschrieben.«
Während Andy den Mann mit den Blumen nicht aus den Augen lässt, setzt er zuerst die Reisetasche und dann ganz vorsichtig den Babykorb ab. Zum Glück schläft das Baby immer noch.
»Bin gleich zurück!«
Und damit eilt Andy dem Unbekannten nach, der gerade im Treppenhaus verschwindet. Am Treppenabsatz kann er den Mann gerade noch als flüchtigen Schatten ausmachen. Der Fremde ist schon eine Etage tiefer.
»Hallo! Moment mal!«, ruft ihm Andy nach.
Der Kerl fühlt sich nicht angesprochen, wirft nur einen kurzen Blick über die Schulter, erhöht aber zugleich seine Geschwindigkeit. Andy hastet hinterher, und er spürt, wie seine Wut mit jeder Treppenstufe zunimmt. Eine bisher unbekannte Wut.
»Hallo, Sie!«
Der Kerl hat unten eine der dunkelblauen Türen am Fuß der Treppe geöffnet, schlüpft hindurch und zieht sie hinter sich zu. Als Andy die Tür aufdrückt, steht er im Keller der Klinik. Versorgungsrohre. Ausrangierte Betten und Nachttische. Plastiksäcke.
»Verdammt!«
Schummrige Beleuchtung. Eine Neonlampe blinkt aufgeregt mit einem flackernden Surren. Andy hält den Atem an, lauscht. Keine Schritte, nichts.
Doch! Atmen. Unterdrücktes Atmen, Keuchen.
Mit einem trockenen Klick geht das Licht aus.
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Der Autor:
Volker W. Degener, geboren 1941 in Berlin, wuchs im Ruhrgebiet auf, war Polizist in Bochum, Polizeipressesprecher und zuletzt Kommissariatsleiter in Herne. Er schrieb zahlreiche Romane und Erzählungen, darunter viele Kinder- und Jugendbücher. Sein Jugendroman »Geht's uns was an«, der auch verfilmt wurde, gehört zu den Klassikern zum Thema Kindesmisshandlung. Zuletzt erschienen von ihm der Jugendroman »Scheiße, der will Amok laufen« (2010).