Tatort: Duisburg
Plötzlich sah ich vor mir, was zu tun war!Und was ich schon längst hätte tun sollen!
Und das war, endlich Schluss zu machen …
(Uhrwerk Orange, 1971)
Stolpere mehr, als dass ich noch renne. Hier soll es also enden: ein Leben voller Bullshit, gefolgt von noch mehr Dreck, den kein Mensch ertragen kann.
Beug mich keuchend nach vorn, stütz die Hände auf die Oberschenkel und spuck auf den Asphalt. Wenn ich könnte, würd ich alles rauskotzen. Aber so viel kann ich gar nicht fressen.
Meine Lungen brennen. Als ich mich wieder aufrichte, hat es angefangen zu schneien. Blick nach oben und seh, wie die Eiskristalle im fahlen Licht der Brückenbeleuchtung auf mich runter wirbeln. Ein paar treffen mein Gesicht, um sofort zu schmelzen. Wie Tränen, die ich nie raus gelassen hab.
Tret ans Geländer und umklammer mit beiden Händen den kalten Stahl. Die Scheißkälte kriecht meine Arme hoch und lässt mich am ganzen Körper zittern.
Darüber, wie es passieren soll, hab ich mir bis zu dieser Nacht keinen Kopf gemacht. Bin bloß durch die leeren Straßen der Stadt gelaufen. Erst als die beiden Brückentürme vor mir aufgetaucht sind, hab ich plötzlich klar gesehen. Sie haben mich magisch angezogen wie 'ne Handvoll Hunnis die Nutten. Jetzt gibt's kein Zurück mehr.
Immer wieder hab ich mir eingeredet, dass alles besser wird. Aber jeder neue Tag war die Hölle. Jetzt weiß ich: Das Leben ist 'ne einzige Lüge. Alles nur Theater, und ich bin eine verdammte Marionette. Hab immer nach der Pfeife der anderen getanzt. Hab gute Miene zum bösen Spiel gemacht und versucht mich anzupassen. Gehör trotzdem nirgendwo hin. Bin ein verdammter Freak, daran lässt sich nun mal nichts ändern. Steht in Großbuchstaben auf meiner Stirn, seit ich auf der Welt bin.
Spür immer noch ihre Blicke. Und die Sprüche, die mich bis in meine Träume verfolgen: Motherfucker. Muttersöhnchen. Hatte aber sonst niemanden. Sie war immer da. Im Gegensatz zu meinem Alten. Der hat uns im Stich gelassen, da war ich grad mal fünf. Ist einfach abgehauen und hat jetzt eine neue Familie. Mit zwei Mädchen, seinen blonden Engelchen. Schöne heile Welt – mir wird schlecht!
Und jetzt hat sie mich ausgesetzt wie einen räudigen Köter. Die eigene Mutter. Ab dem Punkt hab ich aufgehört, an irgendetwas zu glauben. Wenn ich an den Nachmittag zurückdenk, spür ich wieder, wie's in meinem Magen heiß wird. Eine Verzweiflung, die sich in meine Eingeweide brennt und mich von innen auffrisst. Sie hatte nur ein schwaches Lächeln für mich übrig, hat nur mit den Schultern gezuckt. Jetzt bin ich ihr egal. Dabei war ich der Mann im Haus. Hab jede Nacht in ihrem Bett geschlafen und ihrem Atem zugehört. Sie war weich und warm.
Muttersöhnchen!
Aber im Grunde genommen bin ich jedem latte. Niemand wird mich vermissen, wenn ich ein für allemal verschwinde. Alle gottverdammte Heuchler, jeder einzelne von ihnen.
Werd auf einmal ganz ruhig. Hatte meine Entscheidung längst getroffen, als ich das Heim verlassen hab.
Ohne mich noch mal umzublicken, kletter ich übers Brückengeländer. Unter mir wälzt sich der Rhein durchs Flussbett. Mein Atem stockt, als ich in das schwarze Nichts starre, das mich erwartet. Dann lass ich los.
weiter in: Schicht im Schacht
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Nadine Buranaseda |
Nadine Buranaseda, geboren 1976 in Köln, studierte Deutsch und Philosophie in Bonn. Sie veröffentlichte 2005 ihren ersten Krimi - einen Jerry Cotton-Roman, dem bis heute mehr als ein Dutzend folgten. 2010 erschien ihr erster Bonn-Krimi »Seelengrab«.
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