Freitag, 18. Februar 2011

Ralf Kramp
Nachts im Museum

Tatort: Essen, Zeche Zollverein

»Äänz, ich hab mir dat getz lange genuch überlecht.« Die alte Frau mit den strähnigen grauen Löckchen fummelte an ihrem Mantelkragen herum und räusperte sich. »Dat is dir sicher nich recht, un trotzdem sach ich et dir, weil ich numma ährlich sein will.«
Lieselotte Wachowski wrang ihre Handschuhe wie einen Putzlappen. Das Thema war ihr unangenehm, und trotzdem kam sie nicht drum herum. Es musste raus. »Weißte noch, wie wir damals auf Friedhelm sein Vierzichsten auffe Zeche waan? Weißte noch, wie du dich geärgert has, als de dat da gesehn has? Ich weiß noch ganz genau, wat du gesacht has, am Abend, als wir nach Hause gekommen sind. Dat war nich einer von deine Wutanfälle, wo du immer so krawuttig geworden bis. Dat war dein Äänz, Äänz!«
In der übernächsten Reihe wandte sich jemand um und guckte neugierig herüber. Etwas leiser zischte sie: »Ich mach dat. Un wennze dich aum Kopp stellz, du sturen Hund. Meinz wohl, ich trau mich nich, wat? Ich mach dat, Äänz, hasse gehört? Ich mach dat! Heute Nacht!«
In diesem Moment erreichte Tilde Drewniak mit schlurfenden Schritten das Grab ihres Mannes gleich nebenan, bückte sich ächzend, um eine neue Kerze in die Leuchte zu stellen und sagte obenhin: »Is wohl wieder  ’n bissken maulfaul, dein Ernst, wa?«
»Kümmer dich um dein Kram, Tilde.« Lieselotte zupfte möglichst unverfänglich am Kotoneaster herum und wischte mit einem Tempotuch über die metallenen Buchstaben auf dem Grabstein.
Leise wisperte sie: »Guck nich so zu dat Tilde rüber, Äänz. Von da unten kannze ja bei der bis zum Nordpol raufkucken.«
Dann richtete sie sich wieder auf, hob ihre Handtasche auf, die bis jetzt zwischen ihren Füßen geruht hatte und öffnete sie. Vorsichtig, so dass Tilde nichts mitbekam, griff sie hinein, ließ mit verschwörerischer Miene den oberen Teil eines sperrigen Gegenstands für einen Augenblick aus der entstandenen Öffnung lugen und hauchte: »Guck et dir nomma an, Äänz. Getz gibbet kein Zurück mehr.«

Als sie wenig später den Katernberger Friedhof durch das grüne Gittertor verließ, hielt sie einen Moment lang im Schatten der Bäume inne. Sie würde nur noch einmal kurz in ihre Wohnung im ersten Stock des zweigeschossigen Reihenhauses mit der verwaschenen Sandputzfassade in der Graudenzstraße zurückgehen. Dort war alles vorbereitet. Schon als sie am Morgen aufgestanden war, hatte sie gewusst, dass heute der Tag war, an dem es geschehen musste. Bütterken geschmiert, Eier hartgekocht … nur den Kaffee würde sie frisch aufbrühen. Sie spürte, wie ihre Aufregung wuchs, als sie über die Gehwegplatten auf ihr Haus zuwackelte.
Piontek hing auf der anderen Straßenseite über seinem Rollator und winkte herüber. »Lieschen, kommse heut Abend ma zu mir? Bissken kuscheln?«
weiter in: Schicht im Schacht
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Der Autor:
Ralf Kramp
, geboren 1963 in Euskirchen, lebt als Krimiautor und Veranstalter der Krimi-Erlebniswochenenden »Blutspur« in der Eifel. Für sein Debüt »Tief unterm Laub« erhielt er 1996 den Förderpreis des Eifel-Literaturfestivals. Seither verfasste er zehn weitere Kriminalromane, etwa hundert Stories und drei Kinderkrimis. Mit seiner Frau leitet er in Hillesheim das »Kriminalhaus« mit Café Sherlock und dem »Deutschen Krimi-Archiv«.