Freitag, 29. April 2011

Karr & Wehner
Essener Geschichten

Tatort: Essen
Es gibt Geschichten und Geschichten - Lügengeschichten und wahre Geschichten, Geschichten zum Lachen und zum Weinen. Und es gibt Geschichten, auf die man sich nicht einlassen sollte. Egal, wie hoch das Honorar auch ist. Aber das merkt man immer erst, wenn es zu spät ist.
Als mir Oscar Mink seine Geschichte zum ersten Mal erzählte, hörte sie sich nur ein bisschen komisch an. Die Minks besaßen die letzte konzernfreie Brauerei der Stadt. Das alte Dampf-Brauhaus in Borbeck war in den Fremdenführern sogar als Sehenswürdigkeit verzeichnet. Die Plakate mit der drallen Blondine, die »Trink Mink!« sagte, gehörten zum Stadtbild. Außerdem war Oscar Mink ein Schöngeist, saß im Förderverein des Theaters, stiftete mal hier was für einen Serra auf dem Kennedy-Platz und mal was für eine Folkwang-Musikerin oder einen Schriftsteller, den das Literaturbüro Ruhr vergessen hatte. Seine Frau war Schauspielerin im Ensemble des Theaters am Schiffbauerdamm gewesen. Oscar Mink hatte sie da in den 50er Jahren kennengelernt, als er sich in der Berliner Boheme herumtrieb. Bis ihn sein Vater zurückholte, damit er die Brauerei übernahm.
Oscar Mink war ein großer Mann mit schlohweißen Haaren, die Sorte Familienpatriarch, gegen die die Herren Söhne zur vorletzten Jahrhundertwende an bündischen Lagerfeuern rebelliert hatten. Sein Sohn Bernt machte da keine Ausnahme, nur dass er es in Brockdorf mit Wasserwerfern probiert hatte, ehe er nach dem Tod seiner Mutter in die Firmenleitung zurückgekehrt war.
Oscar Mink war mir nicht unsympathisch. Bernt eine Spur zu geschäftstüchtig und großkotzig, trotzdem, ich arbeitete nicht ungern für die beiden. Ich hatte den Sicherheits- und Wachdienst in der Brauerei auf Vordermann gebracht und die Mitarbeiterdiebstähle auf den statistischen Durchschnitt gedrückt. Sicherheit ist mein Job: MAS - Mary Amos Security.

Während der ganzen Zeit hatte ich die beiden Minks höchsten ein halbes Dutzend Mal gesehen, denn sie führten den Laden von ihrem Familien-Schloss unten am Südufer der Ruhr zwischen Werden und Kettwig. Einer der ältesten Herrensitze der Region. Das gesamte Gelände steht unter Denkmalschutz, kein Zutritt für niemanden. Bis auf die Golfclub-Mitglieder. Dort, im Salon von Haus Oefte, erzählte der alte Mink mir die Geschichte zum ersten Mal.
»Es ist eine komische Geschichte. Ich habe Anfang des Jahres ein Schriftstellerstipendium vergeben - ein halbes Jahr bei freier Kost und Logis hier im Gesindehaus für einen Autor, der mir aus den Akten im Familienarchiv eine Firmenchronik schreibt.« Oscar Mink reichte mir ein paar vergilbte Seiten. »Und dann findet der Mann bei seinen Recherchen das hier.«
Das Papier war brüchig wie die Schriftsätze aus der Kriegszeit, die mein alter Herr vor Jahren in den Reißwolf geschoben hatte, als er seine Anwaltskanzlei und das Notariat aufgab, um ins Augustinum in den Stadtwald überzusiedeln. Aber statt Todesurteilen wegen Rassenschande oder Wehrkraftzersetzung standen auf den Blättern so etwas wie Gedichte: Erinnerung an die Anna M.
Die Schreibmaschinentypen hüpften auf und ab und das o hatte Löcher ins Papier gestanzt. Auf der ersten Seite war unten rechts eine Ecke mit den letzten Worten abgeschnitten.
»Was halten Sie davon?« Oscar Mink linste väterlich über seine Halbglasbrille.
Ich legte die Blätter auf den Rosenholztisch neben meinen Sessel. »Fragen Sie einen Literaturprofessor von der Uni. Zum Beispiel diesen emeritierten Goetheforscher, der sich auch mit Krimis beschäftigt. Ich bin in der Sicherheitsbranche.«
Oscar Mink nickte. »Ich weiß, ich weiß. Deshalb bitte ich Sie ja auch um Ihren Rat. Weil ich - verzeihen Sie den Kalauer - mir nicht sicher bin.«
»Wessen?«
»Meiner Abstammung.«
Ich begriff den Zusammenhang nicht und nahm die vergilbten Papierblätter wieder vom Tisch:
An jenem Tag im halben Mond August
Still unter einem Pflaumenbaum
Da hielt ich sie an meiner Brust
»Diese Verse«, erläuterte Oscar Mink, »sollen angeblich vom dem große Bert Brecht stammen. Dieser Schimaniak hat sie im Archiv gefunden. Unter den persönlichen Unterlagen meines Vaters, der zwischen 1920 und 1933 als Beigeordneter für kulturelle Angelegenheiten hier in der Stadt tätig war. Also in dem Jahren, als der große Bert Brecht im Revier war.«
Das sagte mir offenbar nicht das, was es mir seiner Meinung nach sagen sollte. Also erklärte er mir, dass der große Brecht damals noch nicht der große Brecht gewesen, sondern erst ein Anfänger war, der in München, Darmstadt und Frankfurt zwar einige Erfolge hatte, aber erst in Berlin mit seiner Dreigroschenoper die Theater-Szene unsicher machte.
»Es war der Wunsch des hiesigen Theaterintendanten, dass er eine Ruhroper für unserer Stadt schreiben sollte«, sagte Oscar Mink. Das Dozieren gefiel ihm. »Dazu kamen die Herren Brecht und Weill 1927 für einige Tage her, um sich die Örtlichkeiten anzusehen und Inspirationen zu sammeln. Leider wurden dann die weiteren Vertragsverhandlungen von lokalpolitischen Intrigen torpediert. Das Projekt musste abgebrochen werden.« Er machte eine Pause. »So dachte man jedenfalls bisher. Außer einigen Gedichten über den Stadthafen waren keine Werke Brechts bekannt, die im Zusammenhang mit dieser Ruhroper zu sehen waren. Bis Herr Schimaniak in meinem Archiv diese und zahlreiche weitere Blätter entdeckt hat.«
Oscar Minks Blick wechselte zwischen Faszination und Misstrauen. »Blätter, die die Partitur der Ruhroper zu sein scheinen. Insgesamt 29 Seiten, mit dreizehn Dialogszenen und sieben Songs.«
»Wunderbar«, sagte ich. »Und was hat das mit ihrer Abstammung zu tun?« Aus dem Wenigen, was ich überflogen hatte, zeichnete sich ein Bühnenstück mit rußgeschwärzten Arbeitermassen und trinkfreudigen Unternehmern ab, dazu gab es, wie die Gedichte zeigten, irgendeine Liebesgeschichte zwischen einem jungen Journalisten und einer Fabrikantengattin.
»Anna M. war meine Mutter. Und der Ehemann, dem in dem Stück Hörner aufgesetzt werden, gleicht aufs Haar meinem Vater.«
»Vielleicht hat sich der große Brecht einen kleinen Scherz erlaubt, aus Dank für die Gastfreundschaft.« Ich sah hinaus in den Park und auf das Gesindehaus, in dem dieser Schimaniak an der Firmenchronik bastelte.
»Vielleicht.« Mink deutete auf ein Ölgemälde über dem Kamin, das augenscheinlich das glückliche Ehepaar Mink in den Flitterwochen zeigte. »Nur dass ich genau neun Monate nach diesem Scherz das Licht der Welt erblickte.«
»Verstehe. Und nun möchten Sie natürlich nicht, dass die Geschichte in der Firmenchronik auftaucht.« Ich zeigte auf den offenen Kamin. »Manchmal sind die einfachsten Lösungen nicht die schlechtesten.«
Oscar Mink schüttelte den Kopf: »Unsinn. Ich will, dass das hier aufgeführt wird.« Er klopfte auf das Manuskript. »Außerdem will ich einen Beweis in dieser Abstammungsangelegenheit. Was glauben Sie, was als ich Brecht-Sohn und Brecht-Erbe wert bin?«
weiter in: Schicht im Schacht
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Die Autoren:
Karr & Wehner, geboren 1955 und 1949 in Saalfeld und Werdohl, leben im Ruhrgebiet und schrieben bisher zahlreiche Storys, Hörspiele und die »Gonzo«-Thriller »Geierfrühling«, »Rattensommer«, »Hühnerherbst« und »Bullenwinter«. Zuletzt erschienen von ihnen die Jugendkrimis »Feuerspiele« (2010) und »Schneekönige« (2011).