Tatort: Gelsenkirchen
Ich legte meinen Unterarm um den Hals der jungen Frau, umfasste mit der linken Hand ihre Brust und beugte mich ruckartig vor, um ihren Körper in die Knie zu zwingen. Sie schrie auf, als habe man ihr das Genick gebrochen … ihre Arme hingen plötzlich leblos herab und ihr Kinn lag kraftlos auf meinem Arm …
Ich zog sie zum Eingang des Schuppens, der sich unterhalb des Förderturms befand.
Seitdem die meisten Schächte verfüllt worden waren, gab es nur noch die Einfahrt über ein paar alte Tagesschächte, hauptsächlich, um Grubenwasser abzupumpen. Man muss sich das Revier als einen unterirdischen See von der Größe des Bodensees vorstellen. Der schmale Schacht im Schuppen an der Rückseite des Wiesengeländes war neuerer Bauart und diente zur Kontrolle der Pumpen.
»Was ist los?«, fragte ich. »Ohnmächtig geworden?«
»Arschloch … was soll das? Wo bringst du mich hin?«
»Na also, geht ja schon wieder.«
Zwischen dem Zechenhaus und den Pappeln am Rand des Gartens tauchte der Wagen eines Paketdienstes auf. Der Fahrer stieg aus und überquerte die Straße, einen Karton unter dem Arm.
»Erwarten Sie Post?«
Sie gab keine Antwort. Ich wusste, dass sie allein im Haus lebte. Der Bote würde wieder verschwinden, wenn niemand öffnete.
»Setzen Sie sich – nein, nicht ans Fenster, auf den Stuhl an der Wand.«
Ich ließ sie los, und sie tat, was ich sagte. Sie hatte ein hübsches Gesicht, wenn auch etwas blass und gereizt, und in ihrem aufgesteckten braunen Haar, das mit einem Hornkamm aufgesteckt war, glänzte eine dunkle Schleife.
»Haben Sie keine Bekannten in der Nachbarschaft?«
»Geht Sie das was an?«
»Oh, inzwischen geht mich das eine Menge an. Sie haben mich beobachtet? Einmal sogar mit einem Fernglas von ihrem Schlafzimmerfenster aus. Und als Sie merkten, dass ich's mitbekommen hatte, gingen Sie in Deckung …«
Wir befanden auf der Hofseite, aber ich konnte durch den Ausschnitt zwischen den Pappeln sehen, wie der Kurierfahrer zurückkam, das Paket auf den Beifahrersitz warf und wegfuhr.
Ihr Haus sah aus wie eines dieser alten Zechenhäuser, denen man einen pinkfarbenen Anstrich verpasst hatte, um sie jünger wirken zu lassen, doch die schmalen Fenster im Parterre mit Quergittern und das Walmdach mit seinem charakteristischen Giebel und den halbmondförmigen Fenstern stammten aus derselben Zeit, in der die Zeche erbaut worden war.
»Was treiben Sie hier eigentlich?«, fragte sie. »Schacht Oberschuir ist doch schon seit 1984 verfüllt.«
»Als Wetterschacht, ja. Sie kennen sich aber gut aus?«
»Mein Großvater war Bergmann.«
»Und Sie leben hier allein, Julia, hab ich recht?«
weiter in Schicht im Schacht
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Der Autor: Peter Schmidt, geboren 1944 in Gescher, studierte Literaturwissenschaft und Philosophie. Er gehört mit seinen zahlreichen Thrillern in die erste Garde der deutschen Agenten- und Polit-Thrillerautoren. In den Jahren 1986 1987 und 1991 erhielt er den Deutschen Krimipreis. 1994 verlieh man ihm in Anerkennung seines bisherigen Werkes den Literaturpreis Ruhr. Zuletzt erschien von ihm der Thriller »Endorphase-X« (2010)