Dienstag, 15. März 2011

Anne Chaplet
In Barmen kein Erbarmen

Tatort: Wuppertal

Der Schmerz in seinen Fingern hatte sich mittlerweile in jede Nervenfaser seines Körpers eingebrannt. Seine Linke hing kalkweiß herunter, gestreift von schwarz geronnenem Blut. Die rechte Hand zitterte. »Wenigstens haben sie links und nicht rechts angefangen«, dachte Victor Frank und versuchte, das Zittern zu kontrollieren, damit er schneller arbeiten konnte. Loch für Loch stanzte er in den Pappstreifen, der das Programm enthielt, das die Bandwebmaschine antrieb.  Die 'Banditin', wie er sie nannte, war seine Favoritin, hier im oberen Saal des Wuppertaler Museums für Frühindustrialisierung. Mit ihr fertigte er nach Feierabend oder auch mal am Wochenende Bänder in den Farben und mit dem Logo der beliebtesten Fußballvereine an - die Fans waren ganz scharf darauf und bestellten wie die Irren. Jedes Wort auf dem gewebten Band und jedes Muster in jeder Farbe konnte man mit der Stanzmaschine programmieren, vor der er jetzt stand, obwohl er sich kaum aufrechthalten konnte. Kürzlich hatte er grün-weiße Bänder für den SC Salingia Barmen 08 programmiert und sich zweimal verschrieben dabei. War »Salingia« vielleicht ein Name für einen Fußballverein? Egal: diesmal durfte er sich bei dem, was er stanzte, nicht verschreiben. Diesmal ging es um sein Leben.
Victor Frank hob den Kopf und blickte auf die Wand hinter der Hollerithstanze. Nein, es ging schon lange nicht mehr um sein Leben. Nur noch um das Leben danach.  Um seine Rache.
***
»Jetzt lassen wir die Puppen tanzen!« Slavek hatte Roko zugenickt, der breit grinsend den Hebel herunterzog. Mit einem unwilligen Knurren setzte sich die »Puppenkönigin« in Bewegung, eine Flechtmaschine aus dem 19. Jahrhundert, mit der Victor zuletzt blau-weiße Schnürsenkel für die Fans von Schalke 04 angefertigt hatte. Exklusiv.
Ja, bei ihm war alles exklusiv. Auch sein Tod. Exklusiv und exquisit, vor allem was die Schmerzen betraf.
weiter in: Schicht im Schacht

Die Autorin:
Anne Chaplet wohnt mit drei Katzen in Oberhessen, Frankfurt am Main und Südfrankreich. In ihrem Pass steht der Name Cora Stephan, unter dem sie als promovierte Politikwissenschaftlerin und Historikerin zahlreiche Sachbücher verfasst hat. Für ihre bislang neun Kriminalromane erhielt sie zweimal den Deutschen Krimipreis sowie den Krimipreis von Radio-Bremen.